178 Kilometer in den Westen

Gestern mit einer Gruppe an der Glienicker Brücke: Ein Mann sagt, er sei sei über fünfzig Jahren nicht mehr hier gewesen und erzählt seine Geschichte.

Er sei damals immer am Sonnabend von Staßfurt nach Berlin-Schöneberg zu seiner Tante gefahren: einkaufen, ins Kino gehen, über den Kudamm bummeln. Dann sonntags wieder zurück, immer früh aufgebrochen, um pünktlich um vier Uhr nachmittags wieder in Staßfurt zu sein: Um die neuen Klamotten beim Tanztee vorzuführen. Und das alles mit dem Fahrrad und immer die B1 entlang und eben auch immer über die Glienicker Brücke.

Mit dem Fahrrad? Von Staßfurt nach Berlin, frage ich. Ja, sagt er, wissen Sie denn, wo Staßfurt ist? Ja, sag ich. Woher wissen Sie denn das, sagt er und ist erstaunt. Ach, das ist eine lange Geschichte, sag ich, hat mit einem Hund zu tun, egal – Na, sagt er, das sind jedenfalls 178 Kilometer pro Strecke. Gangschaltung hatte ich mir selbst an mein Fahrrad gebaut. Und später bin ich hier dann auch endgültig raus aus der DDR, über die Glienicker Brücke.

Er und sein Freund sollten nämlich zur Offiziersschule gehen, das wollten sie nicht, da hat man ihnen gesagt: Dann werdet ihr nur noch den Hof fegen! Das wollten sie nicht, also wollten sie raus. Kannten aber keinen im Westen, nur die Tante in Westberlin. Also Rucksäcke gepackt, allen erzählt, daß sie in den Urlaub an die Müritz fahren und auf halber Strecke bei der Tante übernachten. Brauchten zwei Tage bis Potsdam – der Freund war ja nicht trainiert! Kurz vor der Glienicker Brücke in Potsdam, schon in Sichtweite des Grenzpolizisten, guckt der Mann sich um: Sein Freund ist weg. Wenn ich jetzt umkehre und nach ihm suche, mache ich mich verdächtig, denkt er in Panik, der Polizist hatte ihn schon bemerkt. Also weiterfahren und offensiv sein, denkt er, fährt direkt auf den Polizisten zu und sagt ihm, er hätte seinen Freund verloren, sie wären auf dem Weg an die Müritz, unterwegs bei der Tante in Schöneberg übernachten, blablabla, sein Freund hätte ein rotes Fahrrad. Ob der Polizist, wenn er ihn sähe, ihm nicht sagen könne, er wäre schon mal vorgefahren zur Tante, man träfe sich dort?

Dann fuhr er über die Brücke, versteckte sich auf Westberliner Seite im Gebüsch und hoffte darauf, daß sein Freund auftauchen würde, was circa eine Stunde später auch geschah. Aschfahl im Gesicht und zitternd berichtete der dann, was sich zugetragen hatte:

Kurz vor der Brücke wäre ihm die Kette abgesprungen, er hätte seinen Freund gerufen, der hätte aber nicht gehört und sei weitergefahren. Nachdem er die Kette wieder aufgezogen hatte, sah er links von sich rot-weiße Schlagbäume, dachte, dies wäre der Weg zur kontrollierten Brücke, und fuhr direkt den Russen in die Hände, die hier in der Berliner Vorstadt viele Villen in Beschlag genommen hatten.

Nachdem er denen mühevoll erklärt hatte, daß er sich geirrt hätte, vom Weg abgekommen sein, an die Müritz wolle, blablabla, ließen sie ihn laufen bzw. fahren und zeigten ihm den richtigen Weg zur Brücke. Von dort kam ihm der Grenzpolizist entgegengerannt und rief ihn zu sich und er dachte, jetzt ist alles aus, man nimmt ihn fest, man hat bestimmt auch schon seinen Freund erwischt. Aber der Polizist sagte, er sei doch der Mann mit dem roten Fahrrad, er solle ihm von seinem Freund ausrichten, dieser wäre schon zur Tante nach Schöneberg vorausgefahren, man würde sich dort treffen…

Und wann genau war das, frage ich. Vor einundfünfzig Jahren, sagt er, 1955. Und seitdem war ich nicht mehr hier, auf dieser Seite der Brücke.
die Glienicker Brücke von der Potsdamer Seite