Stadtführen macht gesund und glücklich

Vorgestern um zehn treffe ich Bob und Ruth, zwei amerikanische Lehrer aus Detroit, die über die Jahre viele Austauschschüler bei sich aufgenommen haben und nun in der Familie ihres letzten Gastkindes in Potsdam zu Besuch sind. Die dankbare Gastkind-Mutter spendiert eine Stadtführung und ist froh, daß mein Englisch besser ist als ihr eigenes. But hey, it isn’t perfect at all!

Wir laufen von der Glienicker Brücke über die Schwanenallee in den Neuen Garten und dort am Heiligen See entlang zum Marmorpalais. Zum Glück ist es heute nicht sehr warm und so müssen meine Gäste nur zwei leicht bzw. gar nicht bekleidete Potsdamer ignorieren, als wir an der Badestelle vor dem Grünen Haus vorbeikommen.

Andere Länder, andere Sitten, ja klar. Aber wenn an heißen Sommertagen die Wiesen hier überfüllt sind mit Menschen unterschiedlicher Nacktheitsgrade, dann sollte die Stadtführerin schon vorher überlegen, welche Nationen sie daran vorbeiführen kann, ohne daß es zu internationalen Verwicklungen kommt… Die beiden nehmen’s gelassen: Ihre Tochter war schon mal auf Europareise und hat von den zum Teil sehr freizügigen Europäern berichtet.

Eine Viertelstunde vor Ende der Führung sind wir an der Orangerie, wo auch in diesem Sommer wieder ein kleines Cafè geöffnet ist. Als Ruth die Blumenrabatten an der Orangerie sieht, beschließt sie, für immer hier bleiben zu wollen – wir einigen uns dann auf fünfzehn Minuten bei Apfelschorle.

Nachdem ich die beiden glücklichen Amerikaner am Haupteingang Alleestraße bei ihrer dankbaren Gastgeberin abgeliefert habe, spaziere ich zurück zum Cafè: Ich habe drei Stunden Zeit, bis meine nächsten Gäste am Anleger Cecilienhof ankommen, da lohnt es nicht, nach Hause oder in die Innenstadt zu laufen.

Also gibt es zwei Potsdamer Würstchen (ja, die gibt es inzwischen!) und guten Kartoffelsalat und danach eine halbe Stunde Mittagsschlaf auf einer Bank gleich um die Ecke. Wirklich bequem ist es nicht, aber neben mir plätschert ein Brunnen und hält den Lärm der Stadt auf Distanz. Sehr schön.

Zum Cecilienhof nehme ich nicht den kürzesten Weg, sondern Wege, die ich mit Gästen eher nicht gehe, kleine, in Schleifen sich windende Wege. Es ist immer wieder erstaunlich und großartig, daß man abseits der ausgetretenen Pfade so allein in den weltberühmten Potsdamer Parks sein kann. Stille und geheime Orte gibt es da, nach denen nie jemand mich fragt…

Am Schloß ist der Besucherrummel wieder da, aber in der Meierei am Jungfernsee ist der Andrang überschaubar. Nachdem ich einen Kaffee getrunken habe, ist immer noch viel Zeit übrig bis zur Ankunft meiner nächsten Gäste. Also laufe ich die Bertinistraße einmal hoch und runter; ich war schon viel zu lange nicht mehr hier und sehe jetzt sanierte Häuser, die noch vor wenigen Jahren so heruntergekommen waren, daß man fast keine Hoffnung auf ihre Erhaltung hatte.

So, jetzt aber: Kurz bevor die „Moby Dick“ aus Wannsee anlegt, regnet es ein paar Tropfen, der Himmel sieht recht dunkel aus, und ich bange um die kommenden zwei Stunden. Aber die Gruppe Berliner Verhaltenstherapeuten, die erwartungsvoll vom Schiff kommt, ist gut ausgerüstet mit ordentlichem Schuhwerk, Regenjacken und einer kaum zu erschöpfenden Neugier.

Vom Cecilienhof geht es nun wieder zum See, dort entlang zum Marmorpalais, dann quer raus zum Mirbachwäldchen, Kaiserin-Augusta-Stift und zum ehemaligen KGB-Gefängnis. Kurz bevor wir gekommen sind, hat hier heute die Grundsteinlegung für einen Erweiterungsbau stattgefunden, und dieses Ereignis wird es heute abend bis in die heute-Nachrichten und die Tagesschau schaffen.

Und jetzt, wie vereinbart, der Aufstieg zum Pfingstberg. Dort soll dann Schluß sein, zwei Stunden waren abgemacht, ich liege knapp, aber noch gut in der Zeit. Aber plötzlich bleiben alle stehen – es liegt Meuterei in der Luft! – und fragen mich, ob wir den Pfingstberg vielleicht auslassen könnten. Sie würden nämlich so gern mit mir noch zur Alexandrowka gehen und für beides wäre ja sicher keine Zeit mehr?

Mhm. Das könnte man machen, klar. Aber es wäre schade um den Pfingstberg und die schöne Aussicht vom Belvedere, oder? Leicht betretene Gesichter: Ja, schon. Hier braucht es jetzt sofort einen Durchbruch, also mache ich einen Vorschlag: Der Pfingstberg liegt auf der Luftlinie sowieso zwischen uns und der Alexandrowka, die Gruppe hat noch Zeit bis zu ihrem reservierten Abendessen, ich habe nach der Führung nun heute wirklich nichts mehr vor – wir könnten beides machen, aber es dauert dann länger als die vereinbarten zwei Stunden. Oh ja, sagt jemand. Naja, sage ich, aber meine Zeit ist wertvoll, verstehen Sie? Ja, das verstehen sie, das finden sie richtig gut, daß ich meine Zeit nicht verschenken will, der „Finanzminister“ der Gruppe nickt und ab geht es auf den Pfingstberg.

Dort oben erbitte ich mir eine Sprechpause, als die Gruppe natürlich dann auch die Türme des Belvederes besteigen und die Aussicht genießen will. Die knappe halbe Stunde, die das dauert, berechne ich ihnen nicht, da bin ich eigen. Nur mit dem Schweigen wird es nichts, weil auch andere Touristen jetzt noch hier hoch gekommen sind und mich fragen: Was das denn sei, ob es noch offen, ob man noch hinein und hinauf könne –

Ich rufe zu Hause an und sage, daß ich später komme als geplant. Dann geht es den Berg hinunter und über den nächsten zur Alexandrowka. Jetzt muß ich aber doch auf die Zeit achten: Noch eine halbe Stunde bis zum reservierten Abendessen in der Villa Kellermann. Die Alexandrowka gibt es also nur noch im Telegrammstil, danach laufen wir gemeinsam zum Restaurant – ich wohne ja gleich dort um die Ecke, das trifft sich gut.

Zum Schluß kann ich mich nur wundern über so viel Neugier und Ausdauer bei meinen Gästen, die es hoch zufrieden sind. Auf den letzten Metern nach Hause überlege ich, wieviel Kilometer ich heute wohl gelaufen bin und freue mich auf den kaltgestellten Weißwein. Sechs? Na, vielleicht sechseinhalb Kilometer?

Für solche Fragen gibt es Computerprogramme, und heute hatte ich Zeit, damit meine Strecke vom Dienstag einmal genau nachzuverfolgen und auszumessen:

12,59 Kilometer, in Worten: Zwölfeinhalb Kilometer! Als nächstes hätte ich dann gern mal einen kleinen Apparat, der die Anzahl der an einem solchen Tag von mir gesprochenen Worte zählt…