die brücke – 10. november 1989

auf dem weg nach hause in der straßenbahn treffe ich eine bekannte. und ich denke, sie will uns besuchen, was sollte sie sonst in dieser bahn machen, die zwei stationen später an der endstation anlangt. aber nein, sagt sie, hast du nicht gehört, daß sie die brücke öffnen werden? nein, ich habe es nicht gehört. sie wollen die brücke öffnen? ja, achtzehn uhr, habe sie gehört.

ich wollte nach hause nach diesem tag, aber die brücke offen? zwei stationen nach meiner steigen zehn leute aus der bahn und haben angst. man geht nicht in diese richtung, man geht nicht zu dieser ersten absperrung quer über der straße, denn dort steht ein soldat mit einem gewehr vor der brust. es ist nur eine niedrige absperrung, sie liegt ja auch noch zwei- oder dreihundert meter vor der brücke, hier braucht es noch keine mauer, hier braucht es nur einen soldaten mit einem gewehr, dem sich niemand nähert.

und doch bin ich vor mehr als zehn jahren oft hierher gekommen, ich mußte herkommen, mein bruder war im grenzgebiet im kindergarten und manchmal kam meine mutter zu spät von der arbeit, um ihn abholen zu können. sie rief bei den nachbarn an, die ein telefon hatten, und ich bin losgelaufen, um meinen bruder zu holen. aber ich hatte keinen passierschein, und man braucht einen passierschein, um dorthin zu gehen, zu diesem kindergarten, der neben der brücke liegt, aber ich hatte keinen passierschein. ich mußte zu dieser ersten absperrung gehen und je näher ich ihr kam, umso näher kam ein soldat auf mich zu, manchmal hatten die soldaten ihr gewehr erst auf dem rücken und nahmen es dann nach vorn, vor die brust, je näher ich kam. ich war elf.

ich möchte meinen bruder abholen, aus dem kindergarten. zögern, warten, der blick reicht bis hinauf zur uniformbrust, bis zum gewehr, bis zu den handschuhen. nicht angucken, hat meine mutter das gesagt? mit gesenktem kopf an der ersten absperrung, oft wurde über das funkgerät rücksprache genommen. na gut, komm mit. der soldat zwei schritte hinter mir, und oft war es schon dunkel, wie es jetzt schon dunkel ist, es ist ja november, gingen wir zum kindergarten und guck nicht die mauer an, das hat mama gesagt, guck nicht zur brücke, guck nur zum kindergarten, hat sie gesagt. und natürlich habe ich zur brücke geguckt, so gut es ging, und zu der mauer, die, nur von einem schmalen weg getrennt, direkt gegenüber der kindergartentür stand. und der soldat wartet, während ich in den kindergarten gehe und meinen bruder hole, und als wir beide hinaustreten, einmal, im sommer, erinnere ich mich an die spitze eines segelmastes, der direkt hinter der mauer entlangglitt. nur ein kleines stück vom mast und ein stück weißes segel, direkt hinter der mauer. der kindergarten hatte ein paar stufen am eingang, und wenn man hinaustrat, war man etwas größer und konnte etwas mehr himmel über der mauer sehen.

und der soldat wartete dort, mit dem gewehr vor der brust, und im november war es dunkel trotz all der scheinwerfer, die dort an der brücke waren, und der soldat begleitete mich und meinen bruder hinaus aus dem sperrgebiet, nicht umsehen, und öffnete das gatter und ließ uns hinaus.

und jetzt gehen wir auf die absperrung zu und der soldat wartet schon auf uns. nur zehn leute, es ist dunkel und es nieselt. und wir gehen bis zum gitter, ganz nah heran, während wir blicke tauschen, und ein pärchen hält sich an den händen, so wie mein bruder und ich uns damals an den händen hielten, und der soldat sagt, der soldat spricht zu uns und er sagt: es tut mir leid. was hat er gesagt? es tut mir leid, sie müssen noch ein bißchen warten. und sein gewehr hängt auf dem rücken, er steht an der absperrung und er lächelt entschuldigend und sein gewehr hängt auf dem rücken und er sagt: es tut mir leid. sie müssen bis achtzehn uhr warten.

und dann, dann öffnen sie, die – fragt eine stimme von hinten. leise, und jetzt regnet es richtig. ja sagt der soldat und lächelt. ich habe nichts anderes gehört. er hat ich gesagt. und hinter ihm, im licht der scheinwerfer liegt die brücke, und ich sehe die absperrungen und betonblöcke und gitter und über all dem schwingen die beiden bögen der brücke in die dunkelheit.

wir warten und wir werden mehr. es kommt noch eine straßenbahn und bringt mehr leute. und der soldat guckt auf die uhr, sehr oft, und er spricht nicht mit dem funkgerät, er guckt auf die uhr und wir gucken auf die uhr und warten. aber wir sind nur zwanzig vielleicht und wir sehen auf unsere uhren, und um achtzehn uhr öffnet der soldat das gatter. gehen sie! sagt er. und lächelt und ich sehe ihn an, ich sehe in sein gesicht, und er lächelt, er grinst nicht, er lächelt und er zittert ein bißchen, er hält sich am gatter fest und wir gehen. tauschen blicke. und gehen auf die brücke zu, auf die scheinwerfer, auf das gleißende licht im regen. hier war ich nicht, seitdem mein bruder nicht mehr in den kindergarten geht. wir laufen und wir biegen nicht zum kindergarten ab. wir gehen nach rechts, zur brücke, nein, zu einem zaun, und dort stehen viele soldaten und sie lächeln, verlegen.

und einer öffnet eine hohe gittertür und sagt dort entlang und wir zögern, weil das die tür in ein labyrinth ist, wir müßten einzeln eintreten, so schmal ist die tür und so schmal ist der gang dahinter und die scheinwerfer sind so hell. und wir haben angst. kommen sie, kommen sie nur ruft ein anderer, dort hinter all diesen hohen gittern. wir gehen, wir gehen hindurch, überall sind soldaten, die uns den weg zeigen, und wir kommen an ein kleines häuschen, in dem, hinter einer scheibe, an weiterer soldat sitzt. und hinter dem häuschen sind die gitter zu ende, nur über der fahrbahn gibt es noch barrieren, aber am brückengeländer entlang gibt es einen bürgersteig, einen bordstein, der ununterbrochen über die brücke reicht. und der soldat im häuschen sagt mürrisch: jetzt gehen sie schon endlich, na los.

und dann gibt es nichts mehr, was uns führt, niemanden mehr, der uns den weg zeigt, nur die brücke. und das pärchen macht ein paar schritte, langsam, und dann läuft es los, die beiden rennen und lachen und rufen in den dunklen regen und andere laufen ihnen nach, ich verliere sie aus den augen, es ist so dunkel dort. ich stehe hier, ich stehe ja hier, die anderen laufen an mir vorbei, sie halten sich aneinander fest und ich sehe ihnen zu. nicht umsehen. und plötzlich sehe ich das wasser, hier ist wirklich wasser, ein großer, schwarzer see, der see, auf dem das segelboot gefahren ist. und so ein schönes brückengeländer und so ein schöner brückenbogen, der sich weit aufschwingt, und es ist dunkel und sehr kalt, es regnet und ich bin allein hier, aber ich werde jetzt rübergehen, ich werde jetzt auch dorthin gehen und ich gehe. und sehe immer auf das wasser, ich sehe auf das schwarze wasser tief dort unten und gehe langsam über die brücke.

und hinter der brücke ist nichts, es ist so dunkel, nur wenige straßenlampen, eine straße, einfach eine straße, die eine kurve beschreibt und ins dunkel führt. ich sehe die anderen nicht mehr, sie müssen schon viel weiter gelaufen sein, vielleicht gibt es hinter der kurve der straße den westen. ich gehe weiter und gehe, hinter der kurve der gleiche schwarze wald, durch den diese straße führt. das erste auto kommt mir entgegen, ich weiß nicht, was es für ein auto ist. alles ist dunkel, aber jetzt will ich es wissen und laufe weiter, und ich komme an eine dunkle kreuzung und da steht es: ein polizeiauto. es steht halb auf dem bürgersteig und ich denke: sie sehen wirklich so aus. ich gehe ganz nah an das auto und denke: sie sehen wirklich so aus. sie sehen wirklich so aus wie im fernsehen. und jetzt kommen immer mehr autos, sie fahren in richtung brücke und einige parken und leute steigen aus und zwei polizisten – sie sehen wirklich so aus – regeln den verkehr, der immer dichter wird. und ich stehe an der kreuzung und sehe zu. die straße führt etwas bergan, rechts und links nur schwarzer wald, ich werde nicht weitergehen, wohin auch, hier sind autos und polizisten und auch menschen jetzt, hier werde ich ein bißchen bleiben.

es werden immer mehr autos und immer mehr menschen, die aus den autos steigen und alle laufen in richtung brücke, dorthin, wo ich hergekommen bin. und die polizisten regeln den verkehr und leiten die autos in die beiden nebenstraßen, wo sie zwischen den bäumen im wald parken und sie lachen. sie lachen die ganze zeit. und ich stehe an der kreuzung und sehe nicht auf die uhr, aber mir wird kalt, sehr kalt. eine frau und ein mann kommen auf mich zu, nein, sie kommen nicht auf mich zu, sie laufen sehr schnell in richtung brücke. und ich trete auf sie zu und sage entschuldigung, und sie bleiben stehen und lächeln mich an. können sie mir sagen, wo all die menschen hingehen? sage ich. hab ich das gesagt. die beiden lachen und der mann sagt: ja haben sie denn nicht gehört, daß sie die glienicker brücke aufgemacht haben? wir wollen die leute begrüßen, kommen sie doch mit! sagt der mann und seine frau zieht ihn an der hand und sagt: komm. und sie gehen, und dann denke ich, ich will nach hause, ich muß nach hause. es ist kalt und es regnet und ich hab hunger und ich kann nicht diese straße entlang laufen, ins dunkle, gegen diesen anschwellenden strom von menschen.

und ich kehre um und gehe zurück zur brücke, zusammen mit all diesen menschen, die aus ihren autos steigen und sich beeilen und lachen und aufgeregt sind, und plötzlich tritt mir ein junge in den weg und hält mir ein kleines gerät unter den mund und sagt: entschuldigung, ich arbeite für eine schülerzeitung. warum gehen sie zur glienicker brücke?

Diese Geschichte hab ich vor zwei Jahren aufgeschrieben – ein Freund meinte, man vergäße so schnell…